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Im Westen nichts Neues?

Neuerdings wird in den politischen Diskussionen wieder des Öfteren von „dem Westen“ gesprochen. Genauer definiert, was damit eigentlich gemeint ist, wird meistens nicht. Mal wird die NATO als „der Westen“ verstanden (die Türkei, die USA und Kanada inklusive), dann die EU (die Türkei, die USA und Kanada exklusive). Genau genommen ist die Bezeichnung „der Westen“ relativ unspezifisch. Europa liegt, von Nordamerika aus gesehen, im Osten. Polen oder die Baltischen Staaten gehörten in den siebziger oder achtziger Jahren zum Osten, obwohl der Mittelpunkt Europas in Litauen zu finden ist. Der einzige Grund, warum man den Begriff „Westen“ also nutzt, liegt allein in der Abgrenzung. „Der Westen“ ist nicht Russland, nicht China, nicht der Nahe oder Mittlere Osten, von denen ausgesehen „der Westen“ eben im Westen liegt. So einfach ist das also geopolitisch.

Mitnichten, möchte man da sagen. Denn was mit dem „Westen“ konnotiert wird, kann doch nicht einfach geographisch bestimmt sein. Einige Beispiele dazu siehe oben. Und gehören die Türkei und Albanien zum Westen (muslimische Länder, Nato-Mitglieder, nicht EU)? Was ist mit Serbien oder Montenegro (christliche Länder, weder Nato-Mitglieder noch EU)? Oder der Schweiz? Das Land gehört gar keinem Bündnis an, pflegt die eigene Neutralität tapfer. Aber wer würde – vielleicht mit Ausnahme der Schweizer – bestreiten, dass die Schweiz zum Westen gehöre?

Wir haben es mit einer komplizierten Materie zu tun. Wenn man es genau betrachtet, so unterstellen alle, die vom „Westen“ reden, dieser sei ein relativ homogenes zivilisatorisch und also kulturelles Gebilde. Wer so spricht, würde auch zum Beispiel die Türkei ausnehmen, obwohl ihr Staatsaufbau auf westlichen Prinzipien beruht. Die Nebenfrage mag erlaubt sein, ob nicht dann Israel auch zum „Westen“ gehörte, was zweifelsohne kulturell der Fall ist. Aber dann liegt der Staat doch im falschen Kontinent, oder? Die Erörterung würde hier wohl zu weit führen. Gehen wir also davon aus, dass der „Westen“ auf gemeinsame Grundlagen zurückzuführen ist. Als da wären die christlich-jüdische Prägung, die trotz fortschreitender Säkularisierung nicht zu leugnen ist; Grundprinzipien der Menschenrechte, wie sie seit der Französischen Revolution in Europa verankert sind; Demokratie und Freiheit und eine aufklärerische Tradition, die heute so selbstverständlich geworden ist, dass wir sie erstens kaum schätzen können und zweitens deswegen uns oft anti-aufklärerisch und traditionsvergessen verhalten.

Nehmen wir an, diese Grundlagen machten „den Westen“ aus. Wir könnten uns sicher schnell darauf einigen. Weil unseren Gesellschaften, egal ob in den USA, in Portugal oder in Deutschland, diese Grundlagen aber noch kaum richtig präsent sind, ist das Sprechen vom „Westen“ so hohl geworden. Wie sieht sie denn aus, unsere hehre Zivilisation und Kultur?

Pessimistisch gedacht, ist sie mittlerweile hauptsächlich auf Wachstum des Wohlstandes ausgerichtet. Eine annähernde Staatspleite wie die Griechenlands – unstrittig Teil des Westens – wird in dieser Perspektive gerne als Betriebsunfall gesehen, war so nicht vorgesehen. Europa und Nordamerika huldigen dem Markt, der leider oft als einziger Wert übrig geblieben ist. Unmodern geworden sind Begriffe wie Verantwortung, Gerechtigkeit, Demut, Bescheidenheit, Verzicht und Solidarität. Und das sind doch die Begriffe, die „den Westen“ eigentlich ausmachen müssten – siehe oben. Aus dem „Westen“ als Kulturraum ist ein ökonomisches System geworden.

Vor einigen Jahren gab es in der deutschen Politik den Vorwurf der „spätrömischen Dekadenz“. Ungeachtet dessen, dass dieses Wort vermutlich von einem gewieften Redenschreiber oder einem Spin-Doktor ausgedacht wurde, um den aussprechenden Politiker in die Schlagzeile zu bringen, muss man sich schon fragen, inwiefern der Vorwurf heute auf „den Westen“ zutrifft. Gerne verweisen wir in auf Menschenrechte, deren Inhalt – häufig auch zu Recht – als kulturfremd und eurozentrisch abgelehnt wird. Wie aber sieht es denn bei uns aus? Ist „der Westen“ noch eine Wertegemeinschaft?

In der Auseinandersetzung mit totalitären Ideologien wird sich zeigen, wie weit Europa und europäisch geprägte Länder noch zu ihren Werten stehen. Oder ob es (alte) Werte neu zu entdecken gibt. Die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen ist eine davon. Offenheit für Verfolgte bei gleichzeitiger Steigerung des Wohlstandes ist eine Gleichung, die nicht aufgeht. Die Frage des nachhaltigen Konsums ist eine andere. Dazu kommt die der sozialen Gerechtigkeit. Oder der Verantwortung füreinander. Die Liste lässt sich fortsetzen.

Europa (bzw. der europäische Kulturraum, zu dem wir jetzt, cum grano salis, auch Nordamerika aufgrund seiner Tradition zählen) ist inhaltlich leer geworden. Nicht umsonst sehen viele die EU kritisch, da sie sich nur als Marktverwalter geriert, nicht als Wertegemeinschaft. Wir haben jahrelang auf die Börsenkurse geschaut und dass, was unser Zusammenleben eigentlich ausmacht, nämlich die Fragen nach Zivilisation und Kultur, vernachlässigt. Wir haben der Nützlichkeit gehuldigt und sind in vielem dekadent geworden. An die Stelle der Metaphysik (das muss keine Gottheit sein), haben wir den Markt gesetzt, das Wohlergehen und die Freiheit, allein zu tun und zu lassen was man selber will.

Wo keine Götter sind, walten Gespenster“, schreibt Novalis 1799 mahnend in einem romantischen Essay über ein neues Christentum in Europa. Und: „Man gedenkt des Frühlings im Spätherbst, wie eines kindischen Traums und hofft mit kindischer Einfalt, die vollen Speicher sollen auf immer aushalten.“ Das klingt alles sehr modern. Und man muss keinen christlichen (bei Novalis gar katholischen) europäischen Kulturraum wollen (und darf keinen fundamentalistischen wollen, wie es gerade in den USA en vogue ist), um zumindest die Ansicht zu teilen, dass wir – wie auch immer gearteter – Werte bedürfen. Aus der Verantwortung für „den Westen“ stiehlt man sich ja gerne heraus, wie die Beteiligung bei Wahlen beweist. Was bleibt, ist die Sinnkrise, wenn der Kaufrausch vorbei ist. Post coitum animal triste ….

Wenn „der Westen“ wieder etwas gelten will, muss er sich kritisch befragen: Was macht unsere Zivilisation und unsere Kultur wirklich wertvoll? Die Börsennotierungen können das nicht sein. Die Herausforderungen sind andere. Allerdings, sie sind unbequem. Sie wieder zu entdecken bedarf es einer Bewusstseinsrevolution oder PolitikerInnen und ProphetInnen, die Europa wieder in die Spur bringen. Daran wird sich zeigen, ob der Westen etwas Neues zu bieten hat als das, was ihm vorgeworfen wird: dass er nämlich in einer Sinnkrise steckt, die nur den Konsum kennt und das schnelle Event. Obwohl tradiert und im Kern konservativ, wäre eine Hinwendung zu den oben bereits erwähnten Werten eine Neuigkeit und böte die Chance zum Aufbruch. Nur wenn es gelingt, den Diskurs über die Herkunft und die Zukunft unserer Zivilisation und Kultur in Gang zu bringen, dann vermögen wir wieder vom „Westen“ zu sprechen, ohne, dass wir uns unsicher sind, was genau darunter zu verstehen ist.

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