Kulturfragen

A tribute to Harry Belafonte

Harry Belafonte (1954). Porträt von Carl van Vechten, Library of Congress

Meine Großmutter wohnte in einem etwas tristen mehrstöckigen Wohnhaus aus den fünfziger Jahren in Essen. Das Licht, die Gerüche, die Materialien, all das ist mir von meinen zahlreichen Besuchen aus Kindertagen bis heute noch sehr lebendig. Die Eingangstür zur Straße hin war etwas zurückgesetzt, links befand sich eine Bäckerei, rechts ein Laden mit Strickzubehör und Wolle. Wie für die Zeit üblich, gab es in den Geschäften große Fensterflächen, die ebenso von Messsing eingerahmt waren, wie die einzelnen Türen.

Der Hausflur roch stets gebohnert, die melierten Treppenstufen waren glatt und man musste aufpassen, nicht auszurutschen, wenn gerade frisch geputzt war. Es kam stets sehr wenig Licht ins Treppenhaus, bedingt durch die hohen Bäume im Garten. Der Aufstieg zu den Wohnungen geschah immer, auch am Tage, in einer Art künstlicher Dämmerung.

Meine Großmutter wohnte in der obersten Etage und ich frage mich, wie sie bis ins hohe Alter den Weg in ihre kleine Wohnung bewältigt hat. Es gab noch keine Fahrstühle oder Treppenlifte. Gegenüber der Wohnung lag die neu gebaute Antoniuskirche, ein rechtwinkliger und schnörkelloser Kubus aus Ziegelstein und Beton als Ersatzbau für die im Krieg zerstörte alte neogotische Kirche, welche in ihrem architektonischen Wagnis, selbst ikonisch geworden ist. Als Kind war mir alles zu viel Beton, erst später habe ich die Idee hinter dem Bau kennen- und lieben gelernt. Der Denkmalschutz sorgt hoffentlich dafür, dass die Kirche nicht alsbald dem gegenwärtigen kirchlichen Furor der Zerstörung und Veräußerung eines Großteils der Sakralgebäude bei uns im Lande zum Opfer fällt.

Bei Familienfesten standen wir oft auf dem schmalen Balkon des Wohnzimmers und schauten auf die Kölner Straße und die Kirche. Ich erinnere mich gut daran, dass mir der schmale Absatz ebenso wenig geheuer war wie das recht feingliedrige, nicht allzu hohe Geländer.

Betrat ich die Wohnung fiel mir als erstes auf, dass der überall verlegte Nadelfilzboden knarzte. Das habe ich nie wieder erlebt: Ein Teppich, der Geräusche von sich gab. Das Geräusch ist für mich mit der Wohnung meiner Großmutter ebenso verbunden, wie der sterile Geruch nach Bohnerwachs im Hausflur, in dem es nie nach Bratkartoffeln, Schweiß oder Abgasen von der nahen Straße gerochen hat. Häufiger habe ich als Kind bei meiner Großmutter übernachtet, meistens, wenn meine Eltern abends ausgingen oder anderweitig unterwegs waren. Dann lag ich im alten Jugendzimmer meines Vaters, das Fenster leicht geöffnet, und ich hörte die Autos von der Straße oder die Musik der Feste im Gemeindesaal neben der Kirche.

Mein Lieblingsplatz in der Wohnung meiner Großmutter war jedoch bei der alten Musiktruhe in einer Ecker des Wohnzimmers. „Telefunken“ stand in geschwungenen Lettern auf einem kleinen Metallschild. Daneben befand sich eine kleine rote, runde Leuchtdiode, die schon zu meiner Kinderzeit nicht mehr funktionierte. Wenn man die Truhe öffnete, also den Deckel herunterklappte, um an Radio und Schallplattenspieler zu kommen, knarzte das Klavierband genauso wie der Teppich in der Wohnung meiner Großmutter und bildete so ein merkwürdiges Duett. Im unteren Teil der Musiktruhe befanden zwei kleine Türen, hinter denen mehrere Alben mit Singles aufbewahrt wurden.

Auffällig war die Gehrung an den Türen, die kannte ich sonst nur von Regalwinkeln und der Knopfverschluss, der so fest war, dass es einiger Kraft bedurfte, die Türen zu öffnen. Links und rechts von den Türen befanden sich die Lautsprecher. Auch sie waren durch Messingleisten verziert, hinter denen ein Stoff die eigentliche Technik verbarg, der in Farbe und Textur dem Stoff des in der Nähe stehenden Sofas ähnelte. Grober Stoff, senfgrün eingefärbt, mit Wiener Geflecht unter den Armlehnen. Wie enttäuscht war ich – Jahrzehnte später – als ich entdeckte, dass hinter der schönen Oberfläche zwei schnöde Grundiglautsprecher in schwarzer Technikoptik standen, die mit dünnen Kabeln locker mit dem Radio verbunden waren.

Als Kind habe ich Stunde um Stunde vor dieser Truhe aus hellem Furnierholz verbracht. Über der Truhe hing ein einfaches Ölgemälde. Es zeigte die verlorene Heimat meiner Großmutter, ein Nest im Riesengebirge. Darunter die Schatzkiste mit der Musik. Ich kann mich nicht erinnern, in der Wohnung meiner Großmutter jemals Langspielplatten gehört zu haben. Mein Reich waren die Sammlungen mit den zahllosen Singles. In diesen bunten Alben, deren Kunststoffüberzug schon einige Jahrzehnte alt war, sodass man schon viele Macken sehen konnte, war teilweise der Kunststoff aufgeplatzt und die Laschen, die den Verschluss hielten, hingen schon lose. Darin gab es viele Vinylsingles mit ganz unterschiedlichen Musikstilen. Ich hörte Ralf Bendix, Babysitter Boogie, Caterina Valente, Tipitipitipso oder Billy Vaughn and his Orchestra, Sail along silvery moon. Ich hörte Elvis Presley und Bill Ramsey und natürlich den Kriminal-Tango von Hazy Osterwald. Für den Plattenteller gab es einen verlängerten Stift mit einer für den kleinen Jungen komplizierten Mechanik, die es ermöglichte, bis zu zehn Singles gleichzeitig zu stapeln, um sie dann nacheinander abspielen zu können. Ich lernte B-Seiten schätzen und schnorrige norwegische Shanties kennen. Bei manchen Texten gruselt es mich, wenn ich sie heute lese.

Coco sieht als kleiner Mann

Gern sich große Frauen an

Solche die so schön gebaut

Wie Don Pedros Braut

Als Kind waren mir die Texte egal, waren mir die Sängerinnen und Sänger egal. Mir ging es um die Musik. Als dreikäsehoher Diskjockey habe ich mir meine erste Playlist zusammengestellt. Stunden-, tagelang kniete ich vor der Truhe und hörte die Musik aus den Fünfzigerjahren. Vor allem hörte ich Harry Belafonte. Ich wusste nicht, wer er war, ich wusste nicht, wie er aussah, wo er herkam; ich wusste nichts über den Sänger. Da in den Kunststoffhüllen kaum die Plattenhüllen archiviert waren, hatte ich nur die kleinen schwarzen Platten mit dem schwarzen Etikett. In goldener Schrift standen Interpret, Titel, Abspielgeschwindigkeit (45) und der Name des Plattenlabels, zumeist in goldener Schrift auf schwarzem Grund. Das war alles. Harry Belafonte war Vinyl mit goldener Schrift und eingängigen Melodien.

Ich hörte Jamaica Farewell, den Banana Boat Song, Mama Look at Bubu, Cocoanut Woman, natürlich Island in the Sun und Scarlet Ribbons, Come Back Liza, Cotton Fields, Matilda, Round the Bay of Mexico und I Do adore her. Ich wusste nichts von Belafontes Freundschaft mit Martin Luther King, seinem Kampf gegen Rassismus und seiner Verehrung für Fidel Castro. Ich war einfach nur gefangen von der Musik. Und ich wusste, dass die Platten ursprünglich meinem Vater gehört hatten, der diese Musik offenkundig geliebt haben musste. Gesprochen haben wir seinerzeit nie darüber.

Come on boy, jump inside

Come on, boy, we gonna take you for a ride

It’s an excursion, where you don’t have to pay

At the end of the line you’ll find a place to stay

Harrys Stimme war rau, aber vertrauenserweckend. Der Rhythmus war anregend, leicht, wie Palmen im Wind und warme Wellen in der Karibik. Die Musik ließ mich in die Ferne träumen und nahm mich in ihrer Eingänglichkeit gleichzeitig sanft in den Arm.

If some day I should see her smile

Hold her hand and me heart beguile

Feel her warmth in her earnest prayer

Darling shield me from all despair

Meine Großmutter hatte ihre Heimat verloren und im Essener Stadtteil Frohnhausen lediglich ein neues Heim gefunden.

But I′m sad to say I’m on my way

Won′t be back for many a day

My heart is down

My head is turning around

I had to leave a little girl in Kingston town

Harry sang Lieder von Sehnsucht, Heimat und Gerechtigkeit. Ich begegnete ihm das erste Mal in der Wohnung meiner Großmutter, die geflohen war, die gelitten hatte, die ihr Leben lang Gerechtigkeit gesucht hatte. Dann habe ich Harry Belafonte vergessen. Dann starb meine Großmutter. Dann wurde die Wohnung aufgelöst. Sie war eine einfache Frau und es gab nichts zu vererben. Nur die Musiktruhe, die hatte sie für mich bestimmt. Und mit der Truhe alle Platten. Das war dann schon die Zeit von MP3 und später Spotify. Zu Beginn des zweiten Jahrtausends kam Harry Belafonte zu einem letzten Konzert nach Hamburg und ich fragte meinen Vater, ob er mir mit mir dorthin gehen wollte. Es war die Zeit nach 9/11 und da bestand die Angst vor großen Veranstaltungen. Also gingen wir nicht dorthin. Aber es erschien einige Jahre später die große Autobiographie My song. Ich kaufte sie, las sie und gab sie meinem Vater. Erst jetzt erfuhr ich, was für ein faszinierender Charakter Harold George Bellanfanti Jr. aus Harlem war. In kleinsten Verhältnissen aufgewachsen arbeitete er sich als Schauspieler und Sänger in die Weltspitze, wurde berühmt mit seinen Songs, deren Melodien er in der karibischen Heimat seiner Eltern fand.

Down the way where the nights are gay

And the sun shines daily on the mountain top

I took a trip on a sailing ship

And when I reached Jamaica I made a stop

Ich begann, alte CDs zu überspielen, Dateien auf meinen IPhone zu laden, ich begann wieder, Harry Belafonte zu hören. Jetzt war das mehr als bloß gute Musik, jetzt war es Ausdruck politischer und philanthropischer Überzeugung; jetzt sah man Harry Belafonte mit Barack Obama auf der Bühne, jetzt hörte ich von seinem Engagement für UNICEF. Harry Belafonte trat erneut in mein Leben.

Daylight come and me wan‘ go home

Day, me say day, me say day, me say day

Me say day, me say day O

Daylight come and me wan‘ go home

Langsam wurde die Kindheit wieder wach, die Sehnsucht nach Heimat, erweckt durch die Musiktruhe in der kleinen Wohnung in Essen, im obersten Stock eines einfachen Mietshauses, in dem ich zum ersten Mal Harry Belafonte begegnete.

 

 

 

Ein Kommentar zu “A tribute to Harry Belafonte

  1. Wunderbare Hommage! Auch an Großmutter, Vater und das als Kind angetreten Erbe der Vorfahren. Ich fühlte mich sehr an meine Omi und ihre Wohnung in der Nähe der Bahrenfelder Trabrennbahn erinnert. Die Liebe zur Musik spielte da auch eine große, Leben stützende Rolle. Es ging allerdings um Opern und Tenöre 🙂

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